Die Zeit der zähen Line-up-Verkündungen in homöopathischen Dosen gehört definitiv der Vergangenheit an. Mit der zweiten Bandwelle liefert FKP Scorpio quasi das komplette Programm für Hurricane und Southside 2026 aus – eine Strategie, die das früher übliche monatelange Hinhalte-Spiel elegant umschifft. Nach nur zwei Ankündigungsrunden im Abstand weniger Monate steht das Jubiläumsprogramm für den 19. bis 21. Juni 2026 nahezu komplett. Nur eine prominente Lücke klafft noch: Am Billy Talent- und Provinz-Tag fehlt in der Kopfzeile noch ein Name. Ansonsten dürften die Acts des oberen Mittelfelds und der Headzeilen bereits jetzt öffentlich feststehen.
Billy Talent: Album-Anniversaries als neues Festival-Geschäftsmodell
Billy Talent spielen 2026 exklusiv bei den Zwillingsfestivals – und zwar “Billy Talent II” komplett. Das Album erschien 2006, also genau zum Hurricane-Wochenende vor 20 Jahren. Ein geschickt kuratierter Nostalgie-Moment, der funktionieren dürfte: Die Band hatte damals ihre kreativ stärkste Phase, und wer zwischen 2005 und 2008 Teenager war, wird bei “Red Flag” und “Worker Bees” unweigerlich sentimentale Flashbacks bekommen.
Die Kanadier sind auf deutschen Festivals unbestreitbar Headliner-Material – was ihre bisherigen Auftritte bei Rock am Ring, Rock im Park, Hurricane und Southside eindrucksvoll belegt haben. 2010 schlossen sie das Southside erstmals als Festivalabschluss-Headliner ab, dankbar und “vielleicht sogar ein wenig gerührt” über diese Rolle, wie damals im Livebericht zu lesen war. Frontmann Benjamin Kowalewicz zog damals sogar ein paar Skeptiker auf seine Seite, als er zur Zugabe im Deutschlandtrikot auf die Bühne kam – schließlich habe Kanada zwar guten Eishockey zu bieten, aber bei der Fußball-WM keine Chance.
Nach ihrer letzten Festival-Präsenz 2024 bei Rock am Ring und Rock im Park sowie 2023 bei Hurricane und Southside war allerdings eine kreative Pause angesagt. Die Rückkehr 2026 mit dem Album-Anniversary-Konzept ist also durchaus clever getimed: lange genug weg gewesen, um Sehnsucht zu erzeugen, aber nicht so lange, dass die Relevanz verloren geht. Dass die Band sich für die Festival-exklusive Deutschland-Rückkehr ausgerechnet Hurricane und Southside ausgesucht hat – also die Festivals, wo “Billy Talent II” 2006 ursprünglich live debütierte – unterstreicht die langjährige Verbindung zwischen Band und Veranstalter.
Florence + The Machine: Theatralik trifft Indie-Rock
Florence Welch und ihre Crew sind zurück – mit “Everybody Scream” als neuem Album und der Ankündigung, dass es ihr “persönlichstes” Werk sei. Was bei den meisten Künstlern eine Marketingfloskel ist, stimmt bei Florence tatsächlich oft: Ihre Shows leben von emotionaler Intensität und einer Bühnenpräsenz, die zwischen Drama-School-Absolventin und mystischer Priesterin changiert.
Wer sie 2015 beim Southside als Headliner erlebt hat, erinnert sich noch an diese “feengleiche, entrückte und daher bezaubernde Darbietung” – wie sie “wie eine Gazelle auf Speed von links nach rechts über die Bühne tobte”. Damals, nach ihrer Fußverletzung, war nichts mehr von einer Beeinträchtigung zu spüren. Live entfaltet sich bei Florence + The Machine das, was auf Platte manchmal etwas überproduziert wirkt, zu seiner vollen Wirkung.
Die Frage bleibt: Passt diese Art von ekstatischer, fast schon spiritueller Performance auf ein Festival, das traditionell eher für Moshpits und Dosenbier steht? Die Auftritte 2012 und 2015 bei Hurricane und Southside haben gezeigt: Ja, durchaus – wenn auch mit einer Publikumsspaltung in “völlig hingerissen” und “naja, ganz nett”. 2026 wird sich zeigen, ob die Magie noch immer funktioniert – oder ob die Theatralik mittlerweile zur Routine geworden ist.
Provinz: Deutschpop zwischen Kunstanspruch und Radiohook
Provinz haben mit “Pazifik” ein Album gemacht, das sich ernsthaft bemüht, mehr zu sein als nur das nächste Spotify-Playlist-Futter. Synthesizer, akustische Elemente, Texte über Einsamkeit und Zukunftsangst – das Paket kennt man. Die Frage ist: Funktioniert das live auf einem Festival, wo die Aufmerksamkeitsspanne gegen 17 Uhr rapide sinkt?
Die Band hat sich in den letzten Jahren eine solide Fanbase aufgebaut, aber ob sie das Format für eine Festival-Kopfzeile haben, wird sich zeigen müssen. Deutschland-exklusiv bei Hurricane und Southside zu spielen klingt gut auf dem Papier – bedeutet aber auch, dass internationale Festivals nicht angeklopft haben.
Empire Of The Sun: Elektropop-Dinosaurier mit Kostümen
Empire Of The Sun sind seit knapp 20 Jahren dabei, was im Elektropop-Kosmos schon fast eine Ewigkeit ist. Ihr Shtick: opulente Kostüme, Science-Fiction-Ästhetik, und Songs, die klingen, als wären sie für einen Wes-Anderson-Film über das Jahr 3000 geschrieben worden. “Walking On A Dream” kennt jeder, danach wird’s schon dünner.
Live ist das Duo verlässlich – visuell beeindruckend, musikalisch solide, aber auch etwas vorhersehbar. Wer schon einmal einen ihrer Auftritte gesehen hat, weiß genau, was kommt. Für Festival-Erstbesucher könnte das durchaus funktionieren; für alle anderen ist es vermutlich eine strategische Bierpause vor dem nächsten Act.
Der Rest: Von unvermeidlichen Punk-Legenden bis zu augenzwinkerndem Italo-Trash
Nothing But Thieves liefern UK-Rock mit Radiotauglichkeit, A Day To Remember bedienen die Metalcore-Fraktion, die ohnehin zum Festival kommt, und Wolf Alice haben mit ihrem Alt-Rock bereits bewiesen, dass sie live überzeugen können. SSIO wird die Rap-Crowd abholen, Finch die deutschen Charts vertreten.
Besonders interessant: Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys, die mit selbstironischem Italo-Pop genau jene Nische bedienen, die zwischen ernster Musikkunst und Ballermann-Trash existiert. Und das #Hurricaneswimteam feiert sein zehntes Bühnenjubiläum – ein Insider-Moment für alle, die die Festival-Geschichte kennen.
Die komplette Liste der knapp 60 Neubestätigungen liest sich wie ein Who’s Who der mittleren und unteren Kartenhälfte: Bosse, Alexisonfire, Royel Otis, All Time Low, Natasha Bedingfield (ja, wirklich!), Pennywise, Grandson, Sondaschule, The Beaches, Zebrahead, President, OG Keemo, Skindred, Sprints, Basement, The Butcher Sisters, Destroy Boys, Soft Play, The Ataris und viele mehr.
Elektro-Programm: Die nächtliche Parallelwelt
Auf der “Wild Coast Stage” im Norden und der “White Stage” im Süden wird Boys Noize, Modeselektor, Modestep (live!), David Puentez, Tinlicker und Roya die Nacht durchmachen lassen. Die White Stage gibt es beim Southside seit 2010 – damals als “Electric Circus” eingeführt, um dem Festival eine elektronische Komponente zu geben. Funktioniert seither verlässlich, auch wenn die Zielgruppe eine andere ist als die vor den Hauptbühnen.
Infrastruktur: 6.200 Tonnen Untergrund
Was man nicht sieht, aber spürt: Seit 2016 liegen 6.200 Tonnen Schotter unter dem Southside-Gelände – eine Investition, die bei jedem Festival mit Regenrisiko Gold wert ist. Die Zahl wurde bei der Pressekonferenz 2024 genannt und verdeutlicht, mit welchem Aufwand ein Festival dieser Größe betrieben wird. Bei 55.000 Besuchern pro Tag wird jeder Quadratmeter extrem belastet – besonders, wenn wie 2010 oder 2013 der Regen einsetzt.
Fazit: Schnelle Vollständigkeit statt langes Taktieren
FKP Scorpio hat mit dieser Ankündigungsstrategie ein Statement gesetzt: Statt die Fans monatelang mit Mini-Wellen hinzuhalten, wird das Line-up quasi auf einen Schlag geliefert. Bleibt nur noch die Frage, wer den letzten freien Slot am Billy-Talent-Tag belegt – und ob das Jubiläumsprogramm wirklich hält, was die schnelle Ankündigung verspricht.
Tickets gibt es ab 199 Euro (Hurricane) bzw. 259 Euro (Southside) auf www.hurricane.de und www.southside.de.




