Stell dir eine schwülwarme Juninacht vor. Der Bass wummert durch deine Brust, tausende Menschen tanzen unter freiem Sternenhimmel, und für einen kurzen Moment scheint die Welt perfekt. So fühlt sich das Southside an – ein Festival, das nach einer bewegten Geschichte seinen Platz in der deutschen Festivallandschaft gefunden hat.
Die ersten Schritte: Neubiberg ’99
Der Sommer 1999 markierte den Startschuss. Auf dem ehemaligen Fliegerhorst Neubiberg bei München versammelten sich etwa 15.000 Musikfans, um dem zu lauschen, was der Hamburger Veranstalter FKP Scorpio um Folkert Koopmans als südliches Pendant zum Hurricane im Norden aus dem Boden gestampft hatte. Blur spielten, Queens of the Stone Age rockten die Bühne, und Die Fantastischen Vier zeigten, dass deutschsprachiger Hip-Hop seinen Platz auf den großen Bühnen verdient hatte.
Die Atmosphäre war rau, ungeschliffen – authentisch. Die Infrastruktur? Sagen wir’s so: Niemand kam wegen luxuriöser Toiletten oder eines kulinarischen Feuerwerks. Man kam für die Musik, die Gemeinschaft, das Gefühl von Freiheit.
Doch der Auftakt in Neubiberg sollte ein einmaliges Ereignis bleiben. Das liegt nicht zuletzt an jenem denkwürdigen Auftritt von Marilyn Manson. Wer dabei war, erzählt noch heute von einem sichtlich angeschlagenen Sänger, der nach nur 20 Minuten und diversen Provokationen die Bühne verließ – und einem aufgebrachten Publikum, das daraufhin Teile des Equipments demolierte.
Die Konsequenz? Den Betreibern wurde untersagt, das Festival weiterhin in München auszutragen. So holprig beginnen manchmal Geschichten, die später zu Legenden werden.
Ein neues Zuhause finden: Neuhausen ob Eck
„Nach München kommt Neuhausen ob Eck” ist ein Satz, den wohl kein Tourismusverband je auf Plakate drucken würde. Und doch erwies sich diese Gemeinde in Baden-Württemberg als perfekter Standort für das aufstrebende Festival.
Der Start am neuen Ort im Jahr 2000 verlief allerdings alles andere als reibungslos. Regenschauer peitschten über das Gelände, die Temperaturen blieben ungewöhnlich kühl, und mit etwa 12.000 Besuchern kamen weniger Musikfans als erhofft.
Nine Inch Nails trotzten dem Wetter, HIM brachten finnische Schwermut auf die Bühne, und The Cranberries zeigten, warum ihre Musik eine Generation geprägt hatte. Doch das Bemerkenswerteste war vielleicht, dass die Besucher nicht nur aus der näheren Umgebung kamen. Bereits damals zog das Southside Menschen aus Bayern, Baden-Württemberg und sogar Österreich an – ein erstes Zeichen seiner überregionalen Strahlkraft.
„Diese Mischung aus süddeutscher Lebensart und internationaler Musikkultur – das findest du sonst nirgendwo”, erzählte mir mal ein Festival-Veteran, der seit der ersten Stunde dabei ist. „Wir hatten zwar nasse Füße, aber glückliche Herzen.”
Wachsen und Gedeihen: 2001-2010
Die Besucherzahlen stiegen rasant: 2001 kamen 20.000 Fans, im Jahr darauf schon 30.000, und zum Ende des Jahrzehnts drängten sich rund 50.000 Musikfans auf dem Gelände. 2003 markierte einen Wendepunkt – das Southside dehnte sich erstmals auf drei volle Tage aus.
Die Bühnen erlebten denkwürdige Shows: Radiohead mit ihrem typischen Gefühlskino, Coldplay auf ihrem Weg zum Weltruhm und Massive Attack, die ihre elektronischen Soundlandschaften mitten ins Dörfliche brachten. Mit dem Erfolg wuchs das Festival selbst: Was mal nur eine simple Bühne auf grüner Wiese war, verwandelte sich in ein ausgeklügeltes Gelände mit mehreren Bühnen, buntem Essensangebot und Camping, das den Namen auch verdiente.
Der Regen blieb übrigens ein treuer Begleiter. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem langjährigen Mitarbeiter: „Wir haben irgendwann angefangen, unsere Southside-Jahre nicht in Bands zu messen, sondern in Grad Neigung der Schlammrutschen.”
Die Evolution der Bühnen und Infrastruktur
Die Entwicklung des Southside Festivals lässt sich auch an der stetig wachsenden Zahl der Bühnen und der Professionalisierung der Infrastruktur ablesen. Was 1999 in Neubiberg mit einer Hauptbühne begann, hat sich zu einem ausgeklügelten Multi-Stage-Konzept entwickelt.
Die frühen Jahre in Neuhausen ob Eck (2000-2002) liefen noch übersichtlich ab: Es gab die Hauptbühne unter freiem Himmel – später als “Green Stage” bekannt – und daneben eine kleinere Spielfläche. 2003 änderte sich das Setup grundlegend: Jetzt standen zwei Hauptbühnen bereit, eine davon in einem großen, halboffenen Zelt.
Der Vorteil lag auf der Hand: Während auf einer Bühne gespielt wurde, konnte auf der anderen schon für die nächste Band aufgebaut werden – Musik nonstop.
2006 kam dann der nächste Schritt mit einer dritten Bühne dazu, die vor allem den Newcomern und Geheimtipps Raum gab. Das Konzept erweiterte sich genau im richtigen Moment, als die Fangemeinde größer und die musikalische Bandbreite breiter wurde.
Der nächste große Sprung erfolgte 2010, als mit der “White Stage” eine vierte Bühne eingeführt wurde. Die vierte Bühne steckte in einem weiteren Zelt und war hauptsächlich für die Elektro-Fraktion gedacht. Mit ihrem “Electric Circus”-Vibe hat sie das Festival ordentlich aufgemischt und frisches Publikum angelockt. Damit war die Bühnenlandschaft komplett: Die “Green Stage” als große Freiluftbühne, die “Blue Stage” als zweite Open-Air-Option, die “Red Stage” im ersten Zelt für die Indie- und Alternative-Heads und eben die “White Stage” für Elektro und DJ-Action. An diesem Setup hat das Festival bis heute festgehalten – es funktioniert einfach.
Die Technik wurde trotzdem ständig aufgerüstet. Am krassesten sieht man es bei den LED-Wänden, die Jahr für Jahr größer und schärfer wurden. Als ich 2012 das erste Mal beim Southside war, waren die Screens noch nette Extras – heute sind sie das Herzstück der ganzen Show.
Auch abseits der Bühnen hat sich viel getan. Die Klos – früher absolute Horrorshow auf Festivals – sind heute erträglich. Statt nur stinkender Dixis gibt’s jetzt feste Sanitäranlagen mit richtiger Spülung, die sogar regelmäßig geputzt werden. Beim Essen hat man auch nicht mehr nur die Wahl zwischen Pommes, Wurst und Bier – inzwischen gibt’s alles von vegan bis international. Die Entwicklung ist schön, allerdings stiegen auch die Preise für die Speisen in Sphären, die manch einer nicht mehr zu zahlen gewillt ist.
Was über all die Jahre die größte Herausforderung blieb, war das Wetter. Insbesondere Regen und Matsch stellten die Infrastruktur immer wieder auf die Probe. Nach den Extremerfahrungen von 2010 und besonders 2016 wurden massive Investitionen in die Geländestabilisierung getätigt. Schotterflächen, effektive Entwässerungssysteme und spezielle Bodenmatten sorgten für mehr Sicherheit und Komfort, konnten die Naturgewalten aber nie vollständig bändigen.
Wie massiv die Investitionen in den Untergrund tatsächlich sind, wurde bei der Abschluss-Pressekonferenz 2024 deutlich. Dort informierte die Festivalleitung: “Befestigungen wurden im Jahr 2016 nachgearbeitet und weiter befestigt. 6200 Tonnen Schotter, Hackschnitzel und Strohballen ungezählt.” Diese konkreten Zahlen geben einen Eindruck vom enormen logistischen Aufwand, der nötig ist, um ein Festival dieser Größenordnung bei wechselhaftem Wetter durchführen zu können.
Unvergessliche Momente und echte Herausforderungen
In der Geschichte des Southside gibt es diese besonderen Momente, die in Erinnerung bleiben: Die Red Hot Chili Peppers, die 2002 bei sengender Hitze eine Energieleistung ablieferten. Die Ärzte, die 2005 zeigten, warum sie zu den unterhaltsamsten Live-Bands Deutschlands gehören. Oder jener Moment im Jahr 2006, als ein plötzlicher Sturm die Veranstaltung für Stunden unterbrach – nur damit später Seeed die durchnässten, aber unbeirrbaren Fans wieder zum Tanzen brachten.
Das Southside hat aber auch düstere Kapitel erlebt. 2007 wurde ein 28-jähriger Mitarbeiter der Johanniter bei Aufbauarbeiten tödlich verletzt, als während eines Unwetters eine Metallstrebe herabstürzte. 17 Konzerte mussten abgesagt werden. Es war ein Moment, der allen Beteiligten schmerzlich vor Augen führte, dass bei aller Festivaleuphorie die Sicherheit immer an erster Stelle stehen muss.
Veränderungen im Gewerbepark: Die Jahre 2012-2016
Mit den Jahren veränderte sich der Gewerbepark Take-off in Neuhausen ob Eck. Neue Unternehmen siedelten sich an, die verfügbaren Flächen wurden anders konfiguriert. Ab 2012 musste das Festival innerhalb des Geländes neue Wege gehen – keine leichte Aufgabe für ein Event, das mittlerweile zu den größten seiner Art in Deutschland gehörte.
Während das Festival seinen Standort beibehielt, öffnete es sich musikalisch. Neben den klassischen Rock- und Alternative-Acts bekamen elektronische Musik und Hip-Hop mehr Raum im Programm. Das Southside entwickelte sich weiter, ohne seine DNA zu verleugnen.
Von der ersten Ausgabe an zeichnete sich das Southside durch eine klare musikalische Ausrichtung aus. Im Zentrum stand die Musik abseits ausgetretener Pfade: Alternative Rock, Indie, Punk und ähnliche Spielarten – der Sound für Leute, die’s etwas sperriger mögen als den Radioeinheitsbrei. Seit 2012 hab ich hautnah miterlebt, wie sich das Festival Stück für Stück neuen Klängen öffnete, ohne seine Wurzeln zu vergessen.
Die große Prüfung: Die Schlammkatastrophe 2016
Der 24. Juni 2016 begann wie viele Festivaltage zuvor. Aufgeregte Fans strömten auf das Gelände, Rammstein, Mumford & Sons und The Prodigy standen als Headliner bereit. Niemand ahnte, dass dieser Tag in die Festival-Geschichte eingehen würde – allerdings nicht wegen der Musik.
Ein schweres Unwetter zog über Süddeutschland. Sturmböen, Hagel und sintflutartige Regenfälle verwandelten das Festivalgelände binnen kürzester Zeit in eine gefährliche Schlammlandschaft. Zelte wurden weggeweht, Bäume entwurzelt, Ausrüstung zerstört. Über 80 Menschen wurden verletzt.
Die Veranstalter standen vor einer unmöglichen Entscheidung. Nach nur wenigen Stunden mussten sie das komplette Festival absagen – zum ersten Mal in der Geschichte des Southside. Rund 60.000 durchnässte, unterkühlte Besucher mussten das Gelände verlassen, viele ohne funktionierendes Equipment, bei katastrophalen Bedingungen.
Für viele langjährige Besucher ist die “Schlammkatastrophe” von 2016 ein traumatisches, aber auch verbindendes Erlebnis. Sie wurde zum Referenzpunkt – jedes Regenschauer, jede matschige Stelle seitdem wird mit diesem Extremereignis verglichen. “Nicht so wie in den 2010er Jahren, als man selbst mit Gummistiefeln im Morast einsank und verzweifelte”, verglich ich 2024 die aktuelle Lage mit den früheren Zuständen.
Doch in der Krise zeigte sich der wahre Charakter des Festivals und seiner Community. Einheimische öffneten ihre Türen für gestrandete Besucher, Notunterkünfte wurden eingerichtet, Mitfahrgelegenheiten organisiert. „In diesen Tagen habe ich gesehen, was das Southside wirklich ausmacht”, erinnerte sich ein Helfer später. „Nicht die Bands oder die Location – sondern die Menschen, die zusammenhalten, wenn es darauf ankommt.”
Das Southside und der ewige Kampf mit dem Wetter
Nach der Katastrophe von 2016 stand das Southside vor einem Neuanfang. Die Veranstalter nutzten die Gelegenheit für eine grundlegende Neuausrichtung und Überarbeitung des Festivalkonzepts, während sie am bewährten Standort im Gewerbepark Take-off in Neuhausen ob Eck festhielten.
Für die Ausgabe 2017 wurden Teile des Festivalgeländes neu konfiguriert und optimiert. Die Fans begrüßten diese Weiterentwicklung enthusiastisch und kehrten in großer Zahl zurück. Die charakteristische Topografie des Geländes mit seinen Hügeln, Mulden und Waldrändern blieb erhalten und trug weiterhin zur unverwechselbaren Atmosphäre des Southside bei.
Die Wetterkapriolen blieben dem Southside auch in den folgenden Jahren treu. Das Southside 2024 wurde erneut von heftigen Regenfällen heimgesucht, die das Festival-Gelände in eine matschige Herausforderung verwandelten. Trotzdem zogen die Besucher das Festival durch und feierten die Bands und das Leben, obwohl sie durchnässt, verschlammt und frierend vor den Bühnen standen – ein Zeugnis der besonderen Festivalgemeinschaft.
Bei der Abschluss-Pressekonferenz 2024 wurden die konkreten Maßnahmen zur Geländestabilisierung offengelegt: Befestigungen wurden seit dem Unwetter 2016 kontinuierlich nachgearbeitet und verstärkt. Allein 2024 kamen 6200 Tonnen Schotter zum Einsatz, dazu Hackschnitzel und Strohballen in nicht gezählter Menge. Die Zahlen sind krass: So viel Material braucht’s, damit die Leute bei Regen nicht bis zum Hals im Matsch versinken.
Trotz Dauerregen 2024 lief die komplette Show ohne Ausfälle – ein echter Triumph gegen die Elemente. Ed Sheeran war das Highlight des verregneten Samstags. Sein Auftritt auf der riesigen Green Stage – nur er, seine Gitarre und seine Loopstation – hatte eine beeindruckende Wirkung auf das Publikum, das trotz des Regens in Begeisterung ausbrach.
Die größte Herausforderung stellte jedoch die Abreise dar. Über 50 Hektar durchweichte Parkfläche führten zu zahlreichen festgefahrenen Fahrzeugen, und viele Besucher benötigten Abschlepphilfe. Die Organisation dieses Rettungseinsatzes verlief deutlich professioneller als in früheren Jahren – ein weiteres Zeichen dafür, dass die Veranstalter aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt haben.
Das Verhältnis zwischen Southside und Wetter bleibt eine Art Hassliebe – untrennbar verbunden und Teil der Festivalidentität. Für viele Stammbesucher gehören die Wetterkapriolen mittlerweile zum Erlebnis dazu, fast wie ein Initiationsritual. Die Bewältigung widriger Umstände schweißt die Festivalgemeinschaft zusammen und schafft geteilte Erinnerungen, die weit über die eigentlichen Konzerte hinausreichen.
Die Pandemie-Pause und das große Comeback
Die COVID-19-Pandemie traf die gesamte Veranstaltungsbranche hart, und das Southside bildete keine Ausnahme. 2020 und 2021 musste das Festival abgesagt werden – ein tiefer Einschnitt nicht nur für die Veranstalter, sondern auch für die vielen Dienstleister, lokalen Zulieferer und die treuen Fans, für die das Southside ein fester Bestandteil des Jahres geworden war.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen waren massiv. Kleine Gastronomieunternehmen, die hauptsächlich auf Festivals ihr Einkommen erwirtschaften, gerieten in existenzielle Nöte. Techniker, Aufbauhelfer, Sicherheitspersonal – die gesamte Infrastruktur, die ein Festival dieser Größenordnung am Laufen hält, stand vor ungewissen Zeiten und verabschiedete sich in andere als sicherer geltente Branchen. Das sollte später beim Neustart zum Problem werden.
Hinter den Kulissen wurde trotzdem geschuftet. Die Festival-Crew nutzte die Zwangspause, um alles auf links zu drehen: neue Konzepte auszuhecken, die Infrastruktur aufzumöbeln und nachhaltiger zu werden. Besonders die Drainage bekam Aufmerksamkeit – damit nicht wieder alles absäuft.
Im Juni 2022 war’s dann endlich soweit: Das Southside meldete sich zurück! Mit Kings of Leon, Twenty One Pilots und Rise Against als Zugpferde fühlte sich der Neustart wie ein Triumph an. Man spürte förmlich, wie sehr alle – Bands wie Fans – das gemeinsame Feiern vermisst hatten.
Trotzdem lief nicht alles rund: Personal fehlte an allen Ecken, Lieferketten stockten, und die Kosten waren explodiert. Viele der Securitys hatten noch nie ein Festival von innen gesehen, und die eingespielten Abläufe mussten erst wieder gefunden werden.
Die Ausgabe 2022 wurde mit rund 65.000 Besuchern zum bis dahin größten Southside überhaupt – ein Beleg für die ungebrochene Popularität des Festivals und die Sehnsucht nach gemeinschaftlichen Live-Erlebnissen nach der Pandemie-Isolation. Diese Rekordteilnahme unterstrich eindrucksvoll die Bedeutung des Southside in der deutschen Festivallandschaft.
Ein persönlicher Blick: Southside-Dokumentation seit 2012
Seit 2012 dokumentiere ich, Thomas Peter, das Southside Festival in Wort und Bild – als Fotograf und Beobachter einer dynamischen Entwicklung, die dem Festival eine eigene Identität verliehen hat. Über die Jahre hinweg habe ich nicht nur die musikalischen Highlights festgehalten, sondern auch die Veränderungen in Struktur, Organisation und Atmosphäre.
Schon seit etwa 2006 war ich als “privater Normalo” dabei. Ab 2012 dann als PRessefuzzi mit Blick hinter die Julissen und einigen Annehmlichkeiten, die alten Menschen das Event zu versüßen wissen.
Mein Southside-Pressedebüt 2012 fiel mit der Neukonfiguration des Festivalgeländes zusammen. Die veränderte Geländestruktur stellte sowohl Besucher als auch Organisatoren vor neue Herausforderungen. Als Fotograf erlebte ich das Festival aus einer besonderen Perspektive – zwischen Fotograben, Pressezelt und dem allgemeinen Festivalgeschehen. Die Verbindung zwischen Künstlern und Publikum, die das Southside trotz seiner Größe ausstrahlt, machte sofort deutlich, warum dieses Festival eine so treue Fangemeinde hat.
2014 beobachtete ich die zahlreichen verschiedenen Herangehensweisen der Festivalbesucher. Manche organisierten ihre Ausrüstung akribisch, andere, wie Tanita in ihrem Festivalrückblick, packten neben den üblichen Utensilien vor allem „eine extrem große Ladung an Ignoranz” ein – ein pragmatischer Ansatz, um die unvermeidlichen Unannehmlichkeiten eines Festivals zu bewältigen. Musikalisch beeindruckten The 1975, Franz Ferdinand und besonders The Black Keys.
2015 zeigte sich die typische Unberechenbarkeit des Southside-Wetters: Während tagsüber teilweise hohe Temperaturen herrschten, fielen die Werte nachts drastisch. “Meistens war’s selbst wenn die Sonne durchbrechen konnte schafskalt”, notierte ich damals. Die Auftritte der Newcomer-Headliner Marteria und Florence And The Machine gehörten zu den Höhepunkten, während Placebo mit einem eher routinierten Auftritt enttäuschten.
Dann kam 2016 – das Jahr der “Schlammkatastrophe”. Was als fröhlicher Festival-Freitag begann, endete in einer kompletten Absage nach einem schweren Unwetter. Die Fotos vom verwüsteten Gelände gingen viral und brannten sich ins Gedächtnis jedes Southside-Fans ein.
Nach dem Neustart 2017 pendelte sich alles wieder ein – bis Corona 2020 und 2021 alles zum Stillstand brachte.
2022 brachte ein emotionales Comeback, bei dem die pure Freude am gemeinsamen Musikerleben greifbar war. 2023 dokumentierte ich Auftritte von Bands wie Madsen, CHVRCHES, Zebrahead, The 1975 und Queens Of The Stone Age – ein lebendiges Zeugnis der musikalischen Vielfalt, die das Festival heute bietet.
2024 war wieder ein Festival im Kampf mit dem Regen, aber die Stimmung blieb ungebrochen positiv. Ed Sheeran, The Offspring, Show Me The Horizon und Avril Lavigne lieferten beeindruckende Auftritte, während die Besucher stoisch dem Wetter trotzten.
Was das Southside über all die Jahre auszeichnet, ist die besondere Mischung aus musikalischer Qualität und einer einzigartigen süddeutschen Festival-Atmosphäre. Die Organisation hat sich professionalisiert, die Infrastruktur verbessert und das musikalische Spektrum erweitert – doch der Kern des Festivals ist geblieben: Diese besondere Verbindung zwischen Musik, Landschaft und einer engagierten Community von Festivalfans.
Das Southside heute: Mehr als nur Musik
Das heutige Southside Festival hat sich weit über ein reines Musikevent hinaus entwickelt. Wer heute aufs Southside geht, erlebt kein primitives Schlammbad mehr. Die Klos spülen, das Essen ist vielfältig, und man verläuft sich dank durchdachter Wegführung nicht dauernd. Überall sieht man, wie viel sich in den letzten Jahren getan hat – von den festen Toilettenhäusern bis zu den ausgebauten Zufahrtsstraßen.
Das Essen hat sich komplett gemausert: Statt nur Pommes, Wurst und Bier gibt’s jetzt Gerichte aus aller Welt, reichlich Veggie-Kram und sogar anständigen Kaffee. Zwischen Green und Blue Stage stehen über 17 Food-Trucks und Stände, die für jeden was im Angebot haben.
Auch beim Camping hat sich viel getan. Wer nicht im Zelt übernachten will, bucht einfach einen der Glamping-Bereiche mit fertigen Zelten, echten Betten und Stromanschluss. Das lockt vor allem Familien und ältere Festival-Gänger an, die zwar Bock auf Musik haben, aber nicht mehr auf dem Boden schlafen wollen.
Das zeigt auch, wie sich die ganze Szene gewandelt hat – die Fans sind mit dem Festival älter geworden und wollen’s jetzt etwas bequemer.
Das Southside ist heute für jeden was anderes: Manche kommen nur für die großen Namen, andere für die Geheimtipps auf den kleinen Bühnen. Einige sind Urgesteine der ersten Stunde, andere feiern ihre Festival-Premiere. Die Musik ist bunter geworden, ohne die Wurzeln zu kappen: Rock, Alternative und Indie sind nach wie vor das Herzstück, aber Electronic, Hip-Hop und Pop haben sich ihren Platz erkämpft. Wie sehr die Leute am Festival hängen, sieht man an den vielen Stammgästen.
Viele kommen seit Jahren oder sogar Jahrzehnten, unabhängig vom konkreten Line-up. Für sie ist das Southside ein fester Bestandteil des Jahres, ein Ritual und ein Ort des Wiedersehens mit Festival-Freundschaften, die oft nur hier gepflegt werden. Diese Community ist ein wesentlicher Teil der Southside-Identität geworden.
Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit
Nach dem Festival 2018 war der Anblick des verlassenen Campingplatzes ernüchternd: Ein Meer aus zurückgelassenen Zelten, Campingstühlen und Müllbergen. Ein Problem, das viele Festivals weltweit betrifft und nach Lösungen verlangt.
Dabei hatte das Southside bereits 2011 mit dem “Green Camping” (auch bekannt als “Grüner Wohnen”) einen wichtigen Schritt in Richtung Nachhaltigkeit unternommen. Dieser spezielle Campingbereich mit strengen Regeln zu Müllvermeidung, Lärmreduktion und umweltbewusstem Verhalten war Teil eines umfassenderen Umweltschutzkonzepts, das auch Maßnahmen zur CO?-Reduzierung bei der Anreise und zur Vermeidung von Papiermüll umfasste.
Der Erfolg des Konzepts war und ist beeindruckend. Während der Abreise zeigt sich der Unterschied am deutlichsten: Das Green Camping bleibt weitgehend sauber und aufgeräumt, während in den regulären Bereichen oft noch immer Zelte und Campingmöbel zurückbleiben. Im Laufe der Jahre wurde das Konzept kontinuierlich ausgebaut und verbessert.
Nachhaltigkeit ist für das Festival keine Marketingstrategie, sondern eine Notwendigkeit. Bei einer Veranstaltung mit 65.000 Menschen über mehrere Tage wird der ökologische Fußabdruck ohne aktive Gegenmaßnahmen schnell problematisch. Das Festivalmanagement hat diese Herausforderung angenommen und entwickelt seine Umweltschutzmaßnahmen stetig weiter.
Neben der Müllvermeidung gibt es beim Southside auch beeindruckende soziale Initiativen. Eine davon ist der Awarness-Ansatz “Wo geht’s hier nach Panama?”. Dieser ungewöhnliche Codename steht für ein Sicherheitskonzept: Frauen, die sich bedroht oder verfolgt fühlen, können jeden Mitarbeiter mit dieser Frage ansprechen. Das Personal ist geschult, sofort zu reagieren und die Betroffene in einen sicheren Raum zu bringen. Ein unscheinbarer, aber wichtiger Baustein für ein Festival, auf dem sich alle sicher fühlen sollen.
Auch bei der Entsorgung zurückgelassener Zelte hat das Festival inzwischen bessere Lösungen gefunden. Ein spezielles Team von Freiwilligen sammelt noch brauchbare Zelte und Campingausrüstung, die an Bedürftige weitergegeben werden. 2023 konnten so über 400 Zelte und 250 Schlafsäcke einer sinnvollen Weiterverwendung zugeführt werden, statt auf der Deponie zu landen.
Andere Umweltinitiativen umfassen das etablierte Mehrwegbechersystem, die Unterstützung von Viva con Agua und Goldeimer sowie spezielle Maßnahmen zum Schutz der umliegenden Biotope und Naturschutzgebiete. Die strengen Absperrungen dieser Bereiche werden rigoros durchgesetzt – wer die Zäune ignoriert, riskiert einen Platzverweis.
Eine bemerkenswerte Entwicklung der letzten Jahre sind die solaren Bodenleuchten, die nachts die Hauptwege markieren, ohne dabei große Strommengen zu verbrauchen – ein cleverer Schachzug, der gleichzeitig die Sicherheit erhöht und Ressourcen schont.
Das “BagUp”-Projekt ist eine weitere kreative Nachhaltigkeitsmaßnahme. Hier werden ausgediente Festivalbanner in einer Hamburger Design- und Nähwerkstatt zu wetterfesten Taschen umgearbeitet. Das Projekt wird von IN VIA Hamburg e.V. als Sozialprojekt betrieben – somit landen die Banner nicht auf dem Müll, sondern werden zu individuellen Festivalandenken mit Mehrwert.
Für 2025 plant das Festival laut Pressemitteilungen ein erweitertes Konzept zur CO2-Reduktion. Nicht nur die Tourneebands werden angehalten, ihre Transportemissionen über atmosfair zu kompensieren, auch ein Großteil der Festivalinfrastruktur soll klimafreundlicher werden – von der Energieversorgung bis hin zum Food-Konzept mit verstärktem Fokus auf regionale Produkte und pflanzliche Alternativen.
Die ungewisse Zukunft: Was bringt 2025 und danach?
Während die ersten Acts für 2025 bereits feststehen – Green Day, Nina Chuba und SDP werden die Bühnen rocken – schwebt ein Fragezeichen über der langfristigen Zukunft des Festivals am Standort Neuhausen ob Eck.
Die aktuellen Verträge zwischen dem Veranstalter FKP Scorpio und dem Gewerbepark Take-off laufen Ende 2025 aus. Gleichzeitig wächst der Gewerbepark stetig weiter: Neue Unternehmen siedeln sich an, bestehende expandieren. Dies führt zu einer kontinuierlichen Verringerung der für das Festival nutzbaren Flächen – keine kleine Herausforderung für ein Event mit 65.000 Besuchern.
Bei der Abschluss-Pressekonferenz 2024 zeigte sich die Festivalleitung dennoch optimistisch bezüglich der Zukunft am gewohnten Standort. Auch Heike Reitze, Geschäftsführerin des Gewerbeparks, gab zu verstehen: “Nächstes Jahr steht. Danach bin ich zuversichtlich, dass es weiter geht. Gewerbeansiedlung ist wichtiger, aber das Festival ist auch wichtig. Vielleicht zukünftig mit Flächeneinbußen und Kreativität.”
In der Region kursieren Gerüchte, dass FKP Scorpio bereits nach Alternativen Ausschau halte. Der Flugplatz in Mengen im benachbarten Landkreis Sigmaringen wird immer wieder als möglicher Plan B genannt. Doch konkrete Hinweise fehlen.
Die Antwort von FKP-Scorpio-Pressesprecher Jonas Rohde auf Nachfragen der Schwäbischen Zeitung klingt jedenfalls verhalten optimistisch: „Wir sind wie immer in engem und gutem Austausch mit der Take-off-Betreibergesellschaft. Bislang ist es uns immer gelungen, Veränderungen im Flächenbedarf des Gewerbeparks in enger Abstimmung mit der Gemeinde und den Landwirten vor Ort zu kompensieren. Dementsprechend sind wir sehr gern in Neuhausen und fühlen uns wohl – jetzt und auch in Zukunft.”
Ein Festival mit Charakter – wo auch immer es stattfindet
Die Geschichte des Southside ist eine Geschichte von Kontinuität trotz Veränderung. Vom ersten Umzug von Neubiberg nach Neuhausen ob Eck bis hin zu den internen Anpassungen innerhalb des Geländes – das Festival hat immer seinen Charakter bewahrt.
Was als südliches Pendant zum Hurricane begann, hat längst eine eigenständige Identität entwickelt. Das Southside hat seinen eigenen Geist gefunden, geprägt von süddeutscher Lebensart, internationaler Musikkultur und einer besonderen Gemeinschaft von Fans.
Ob das Festival auch über 2025 hinaus in Neuhausen ob Eck stattfinden wird, bleibt abzuwarten. Doch eines ist sicher: Das Southside hat in seiner Geschichte immer wieder bewiesen, dass es Widrigkeiten trotzen und sich neuen Gegebenheiten anpassen kann, ohne sich selbst zu verlieren.
Für rund 65.000 Menschen ist das Southside mehr als nur ein Festival – es ist ein Stück Heimat, ein jährliches Ritual, ein Ort, an dem man für ein Wochenende dem Alltag entfliehen kann, um Teil von etwas Größerem zu werden. Diese Essenz wird das Festival auch in Zukunft begleiten – ganz gleich, wo es letztendlich stattfinden wird.
Und während wir gespannt auf die Ausgabe 2025 mit Green Day, Nina Chuba und SDP blicken, können wir uns sicher sein: Die Geschichte des Southside ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Vielleicht wird das nächste Kapitel wieder von Regen und Schlamm geprägt sein – oder von strahlendem Sonnenschein. Vielleicht bleibt das Festival in Neuhausen ob Eck, vielleicht zieht es weiter. Doch eines bleibt bestehen: Der besondere Geist dieses Festivals, der aus 25 Jahren gemeinsamer Geschichte, geteilter Freude und überwundener Herausforderungen gewachsen ist. Es ist dieser Geist, der das Southside zu dem macht, was es ist – eine Institution der deutschen Festivallandschaft und für viele von uns ein unverzichtbarer Teil des Sommers.