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Nun bleib’ mal auf dem Boden – Ein Kommentar zur Crowdsurfing-Problematik

Sven Morgenstern

Festivalfficionado, Fotodude

Neurobiologe, Festivalliebhaber. Verdient seine Brötchen mit Webseitenkonsulting (Strategische Planung, Erstellung, Pflege) bei 70six.de.

Anmerkung: Es handelt sich hierbei um die Meinung eines einzelnen Redakteurs, die nicht zwangsläufig den Standpunkt der gesamten Festivalisten-Redaktion widerspiegelt.

Ihr kennt das: die Band dort auf der Bühne spielt ihre größten Hits, eingänige Gitarrenriffs treten dem Publikum in den Hintern. Die Stimmung ist am Siedepunkt, Schweiß tropft von den Wänden. Klar, dass in solchen Momenten kein Fuß dauerhaft am Boden bleibt. Problematisch wird es allerdings dann, wenn Füße dauerhaft den Untergrund verlassen. Wenn sich Konzertbesucher anschicken, auf der Welle der Euphorie über das Publikum zu surfen. Ein Kommentar zum Crowdsurfing – vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse.

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Crowdsurferin auf dem Open Flair 2013, Foto: Sven Morgenstern

Nun, man mag argumentieren, dass dem Bad auf der Menge anno 2014 immer weniger Bedeutung beizumessen ist. In Zeiten von eng gestaffelten Wellenbrechern und Armadas von Smartphones, die das Geschehen auf der Bühne aufzeichnen, hat die gesellschaftliche Akzeptanz des Crowdsurfings vielleicht einen historischen Tiefpunkt erreicht – zumindest wenn man die marktdominierenden Majorfestivals sowie mittelgroße bis riesige Konzertevents betrachtet. Doch insbesondere bei Clubkonzerten oder kleineren Open-Air-Events (meist mit einem signifikanten Anteil an Punk Rock) spielt Crowdsurfing noch immer eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Rock ‘N’ Roll?

Klar, gerade weil Crowdsurfing mittlerweile auf vielen Festivals verboten ist, erscheint es für die entsprechende Klientel reizvoll und als eine Art rebellischen Akts. Ein kleiner Mittelfinger im Antlitz des Establishments, ein kleines bisschen Rock ‘N’ Roll als Abwechslung zum Alltagstrott.

Doch auch Rock ‘N’ Roll hat Grenzen. Und die sind spätestens dann erreicht, wenn sich Personen mit dreistelligen Körpergewichten (no offense, ich gehöre in die gleiche Kategorie) ohne jegliche Körperspannung wie nasse Säcke auf Konzertpublikum fallen lassen, von dem sie jedoch erwarten, im wahrsten Sinne des Wortes, auf Händen getragen zu werden. Wenn ich ein Konzert besuche, dann möchte ich in der Musik versinken. Dann möchte ich tanzen. Oder ich möchte im Moshpit Staub fressen. Was ich aber in keinem Fall will, sind Schuhe, Ellenbogen oder Nietengürtel ohne Vorwarnung im Gesicht. Denn genau das ist einer der beiden großen Unterschiede zwischen einem (geregelten) Moshpit und dem Crowdsurfen: ein Moshpit ist vergleichsweise berechenbar.

Das andere große Unterscheidungsmerkmal ist der Grad der Freiwilligkeit. Betrete ich einen Moshpit, weiß ich in der Regel ganz genau, worauf ich mich einlasse und suche bewusst den harten Körperkontakt. Darüberhinaus habe ich durch die vergleichsweise lockere Anordnung der Zuschauer jederzeit die Möglichkeit, den Moshpit zu verlassen. Beim Crowdsurfen ist die Situation grundlegend anders gelagert. Um einen Crowdsurfer tragen zu können, ist das Publikum naturgemäß dichter gedrängt. Ein Ausweichen ist nahezu unmöglich. Auch Personen, die dem Crowdsurfen ablehnend gegenüber stehen, werden gezwungen, Teil dieser Aktion werden. Crowdsurfing ist also im Kern höchst asozial und ein von mangelnder Empathie zeugendes Verhalten.

Fakten, Fakten, Fakten

Anhänger dieser umstrittenen Praxis mögen mir nun vorwerfen, ich läge typisch deutsche Spießigkeit an den Tag. Klar, kann man so sehen. Allerdings gibt es handfeste Fakten, deren Bedeutung auch Befürworter des Crowdsurfings kaum ignorieren können. Denn Fakt ist: Crowdsurfing ist gefährlich. Crowdsurfen stellt eine Gefahr für die Gesundheit aller Beteiligten dar und kann im Extremfall sogar zum Tod führen. Glaubt man nicht? Sollte man aber. Denn Ende Januar diesen Jahres verstarb ein 28-jähriger Schweizer an den Folgen eines Sturzes beim Crowdsurfing. Bei der Schweizer Station der Persistence Tour traten unter anderem Suicidal Tendencies auf.

Auch die US-amerikanische Band Fishbone kann ein Lied zu den Folgen des Crowdsurfens singen. Immerhin verdonnerte ein Richter aus Pennsylvania die Band kürzlich zu einer Schadensersatzzahlung von rund 1,4 Millionen US-Dollar. Grund: Im Februar des Jahres 2010 stürzte eine Frau beim Versuch des Crowdsurfens und verletzte sich schwer.

Crowdsurfende Künstler?

Eine kopflose Gleichmacherei kann und soll allerdings nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Ein rigoroses und allumfassendes Verbot ist einfach nicht zielführend. Denn bei allen Nachteilen, die das Crowdsurfen mit sich bringt, gilt noch immer: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Crowdsurfende Künstler sind also durchaus akzeptabel, werden so doch immerhin für einen kurzen Moment ein Gemeinschaftsgefühl sowie Nähe zu den Fans in den ersten Reihen geschaffen. Elementare Grundvoraussetzung ist jedoch, dass sich ein Künstler auch in dieser vermeintlich anarchischen Aktion der Gefahren und der Verantwortung gegenüber dem Publikum bewusst ist. Ist er das nicht, endet das vermeintliche Spektakel wohlmöglich in einer Tragödie wie der von Charles Haddon, dem Sänger und Frontmann der ehemaligen britischen Synthie-Pop-Band Ou est Le Swimming Pool. Dieser nahm sich auf dem Pukkelpop Festival 2010 das Leben nachdem er beim dortigen Auftritt mit den Beinen voran ins Publikum gesprungen war und eine Frau schwer verletzte.

Fazit

Bei aller Freude, die das Crowdsurfen für den auf Händen Getragenen bietet: Es handelt sich um eine höchst eigensinnige Aktion. Einen Mehrwert bietet das Crowdsurfing nur für eine einzige Person – auf Kosten des Vergnügens vieler anderer. Deshalb wäre es schön, wenn das nächste mal, wenn Riffs und Soli Bewegungsanreize setzen und der Schweiß von den heißen Wänden des Clubs tropft, alle Füße zeitnah wieder auf dem Boden der Tatsachen landen.

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