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Bands, Konzerte

So war’s: Justin Bieber in Dortmund

Steffen Neumeister

Festivalfficionado, Fotodude

Neurobiologe, Festivalliebhaber. Verdient seine Brötchen mit Webseitenkonsulting (Strategische Planung, Erstellung, Pflege) bei 70six.de.

Buy Me A Coffee

Seit einer halben Stunde sitze ich nun hier und weiß einfach nicht wie ich diesen Artikel beginnen soll. Zu viele Eindrücke prasselten auf mich ein. Viel zu viele kleine Geschichten mit denen ich ganze Bücher füllen könnte erlebte ich an nur einem Abend. Aber von vorn.

Bereits am Vortag des Konzertes belagerten die ersten Fans schon die Dortmunder Westfalenhalle. Während ich so an der beinahe einmal die Halle umrundenden Schlange vorbei spaziere und Katastrophentourismus betreibe, wirkt der gesamte Vorplatz der Halle wie ein einziges Schlachtfeld. Rettungsdecken, Essensreste, leere Getränkeflaschen, Erbrochenes. Das ganze sieht aus wie nach vier Tagen Festival. Schon bemerkenswert, was Justin Bieber Fans innerhalb weniger Stunden zustande bekommen.

Der eisige Wind pfeifft, während ich mich ebenfalls in die Schlange einreihe. Irgendwie scheine ich zwischen pubertierenden Mädchen mit “Swaggy”-Kappen und Eltern mit kleinen Kindern aufzufallen. Zumindest bilde ich mir immer wieder einige kritisch musternde Blicke ein.
In der Halle angekommen gibt es keinerlei Blockkontrollen. So entschließe ich mich trotz Innenraumtickets einfach auf die Tribüne zu setzen. Eine gute Entscheidung wie ich später merken sollte.

Was auffällt: Bei einem Justin Bieber Konzert kommt man sehr schnell mit anderen Besuchern ins Gespräch. So erkennt der leicht genervte Familienvater, der vermutlich von seinen Kindern mit in dieses Konzert geschleppt wurde, sehr schnell, dass meine Begleitungen und ich ebenfalls nicht hier sind, weil wir die größten Justin Bieber Fans unter der Sonne sind. Selbst der Popcornverkäufer, der mit seinem Bauchladen die Tribüne abläuft um seine süße Ware unters Volk zu bringen fragt leicht verschüchtert, ob wir denn tatsächlich wegen Justin Bieber vor Ort seien. Aber  keine Zeit für Erklärungen, das Licht geht aus, die Vorband betritt die Bühne.

Obwohl der Innenraum nichtmal zur Hälfte gefüllt ist und auch auf den Rängen sehr viele freie Lücken zu finden sind, ist der Lautstärkepegel in der Halle kaum aushaltbar. Nicht etwa durch die Boxen, nein, ein Konstantes Kreischgeräusch, ähnlich dem einer nicht geölten Kreissäge, bringt meine Ohren zum Klingeln. Ich hoffe einfach, dass die Stimmen der Kreischmädchen bis zum Hauptact einfach nicht mehr vorhanden sind, aber scheinbar sind deren Stimmbänder aus Stahl gefertigt. Vier kleine, geleckte Jungs in übercoolen Lederjacken betreten die Bühne mit ihren Instrumenten in der Hand.
Ein taubstummer Blinder, der ohne Eintrittskarte vor der Halle stehen würde, erkennt hier ab der ersten Sekunde das Plattenfirmenkalkühl mit der diese Band zusammengesetzt wurde. Jeder Schritt, jedes Wort, jeder Ton ist geplant und aufs Geld verdienen ausgelegt. Selbsterklärend, dass die Jungs nur ihre Lippen zum Playback bewegen. Den Eindruck, dass das ganze live ist, will man scheinbar aber auch gar nicht erwecken. Sonst hätte man ja zumindest mal ein paar Mikrofonatrappen am Schlagzeug anbringen können. Nunja, das Publikum kreischt unentwegt weiter, aber das würd es vermutlich auch, wenn Kim Jong Un grade der gesamten Welt den Krieg live (oder eben Playback) auf der Bühne erklären würde. Eins muss man der Band jedoch lassen. Sie haben verdammte Ohrwürmer. Kleine, auf Hit getrimmte, fiese, dreckige Parasiten, die sich im Ohr festsetzen und lange nicht mehr rausgehen. Gefährlich diese Musikindustrie.

Nach 20 Minuten geht das Licht in der Halle wieder an, die Neon Dogs verlassen die Bühne. Zeit sich nochmal umzuschauen. Vor uns sitzen mittlerweile drei Mädchen, vermutlich eher jugendlichen Alters, die jeden läppischen Spruch, welcher Justin Bieber etwas durch den Kakao zieht, mit Kontern wie “Ey, alter, schonmal Blut durch die Nase gespendet?” oder ganz einfach “Kriegst gleich aufs Maul, ja?” beantworten. Sympathische Damen. Schade, dass sie sich kurz darauf entschließen das Konzert doch aus dem Innenraum zu genießen.

Der Blick auf die Uhr lässt das Publikum etwas ungeduldig werden. Mittlerweile lässt Herr Bieber schon 45 Minuten auf sich warten. Rechts neben mir sitzen drei Mädchen, alle um die 18. Eine von ihnen heißt Kirsten und Justin Bieber ist die Liebe ihres Lebens, so stellt sie sich mir zumindest vor. Man unterhält sich um die Langeweile zu überbrücken und nach kurzer Zeit stelle ich fest, dass es auch sympathische Justin Bieber Fans geben kann. Meine Weltanschauung ist bis in die Grundmauern erschüttert, Kirsten und ihre Freunde können vernünftig sprechen, wissen sich zu benehmen und sind keine vorlauten und unsympathischen Gören.

Irgendwann fragen sie mich über die Band aus, die das T-Shirt ziert, welches ich grade trage. Während ich ihnen dann erkläre, warum die Kassierer die mächtigste Band des Universums sind, hallen erste Buh-Rufe durch die Halle. Nach 90 Minuten Warten werden einige Eltern in der Halle zurecht sauer. Auch ein Herr Bieber weiß, dass er ein sehr junges Publikum hat und viele kleine Kinder nicht unbedingt bis mitten in die Nacht in stickigen Konzerthallen sitzen sollten. Scheint ihm aber egal zu sein. Die Eltern, die vor der Halle warten und ihre Kinder abholen wollen, werden mittlerweile einfach in die Halle eingelassen. Platz genug ist ja da.

Nach zwei Stunden gibt es einen ohrenbetäubenden Knall und einen unfassbar hellen Lichtblitz. Während ich mich noch von meinem halben Herzinfarkt und dem vor Schreck auf der Hose verschüttetem Getränk erholen muss, steigt der Kreischpegel auf ungeahnte Lautstärke. Ich habe ernsthaft physische Schmerzen in den Ohren. Kirsten und ihre Freunde sind mittlerweile aufgesprungen und fächern sich mit ihren Händen gegenseitig Luft zu. Was hatte dieser Knall zu bedeuten? Auf der Leinwand erscheint ein 10-Minütiger Countdown. Ein Countdown bis endlich mal jemand auf die Bühne kommt und sagt, dass der Herr Bieber heute leider keine Lust hat?

Nein, tatsächlich geht nach den 10 Minuten das Licht in der Halle aus und das Konzert beginnt. Bieber schwebt mit riesigen Engelsflügeln über das Publikum hinweg und landet auf dem Laufsteg der bis weit in die leere Halle ragt. Die Securitys ziehen im Sekundentakt kollabierte Mädchen aus den ersten Reihen und übergeben sie direkt an die zahlreich bereitstehenden Sanitäter.
Was folgt ist eine perfekt inszenierte Show. Eine Bühne mit drei Etagen, Pyrotechnik in der gesamten Halle und eine Lichtshow die vermutlich noch vom Mond zu sehen ist.

Bieber und seine zahlreichen Tänzer springen über die Bühne und jagen ständig irgendwas in die Luft, während seine wirklich gute Liveband (ja, live, richtig gelesen) ordentlich was raushaut. Einzig der Gesang des Hauptprotagonisten kommt zwischen den Explosionen, Backgroundsängern und fetten Beats des DJ kaum zur Geltung. Aber das ist den meisten Anwesenden vermutlich egal.
Wo Justin Bieber grade noch auf der dritten Etage seiner Bühne von Paparazzis gejagt wurde, da wird er zehn Sekunden später schon aus dem Boden des Laufstegs in der Halle katapultiert. Jeder Schritt, jeder Stunt, jeder Licheffekt sitzt. Gut, man hätte vielleicht eine CD mit guter Musik auflegen können, dann wär das ganze nochmal eine Nummer besser, jedoch kann sich hier niemand beschweren nichts geboten zu bekommen.

Justin bedankt sich brav bei seinen Fans, spielt alle Hits, aber eine Entschuldigung für die satten zwei Stunden Verspätung gibt es nicht. Ist mittlerweile sowieso egal. Die Eltern müssen die Kinder zurückhalten nicht vom Oberrang in Richtung Bühne zu springen und auch Kirsten und ihre Freunde hüpfen bis die Tribüne wackelt. Durchaus vertretbare 105 Minuten dauert das Spektakel der Reizüberflutung und selbst wenn ich es im Vorfeld niemals zugegeben hätte: Ich hatte heute einen unfassbar guten und unterhaltsamen Abend. Sieht man das ganze unter dem Aspekt Show und nicht als Konzert, dann erlebten wir hier grade ganz großes Kino. Auch wenn die Rolle Biebers durch jeden halbwegs tanzen könnenden Menschen ersetzt werden könnte.

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