Tja, liebes Rockavaria. Nun haben wir einen sommerlichen Tag miteinander verbracht und ich muss Dir ein Kompliment machen: Du bist in keinster Weise das Geisterfestival, dass man vielleicht erwartet hatte. Ich habe Dich unterschätzt und – so mein Eindruck- man gibt sich wirklich Mühe kleine Premierenprobleme mit Freundlichkeit auszugleichen. Gleichwohl gibt es einige Baustellen, die infrastrukturbedingt wohl auch mittelfristig nicht aufzulösen sind. Es fühlt sich einfach mehr wie eine Serie aneinandergereihte Konzerte denn ein Festival an.
Die ersten paar Stunden nach der Eröffnung sah es so aus, als sollten sich alle Vorurteile bestätigen. Auf dem Weitläufigen Gelände samt verbindendem Coubertinplatz verloren sich nur wenige Seelen – es war nahezu aussichtslos Impressionen zu fotografieren, die die real existierende Leere verbargen. Wenige Stunden später allerdings sollte sich das ändern. Pressevertreter sind angehalten, keine Bilder vom Publikum aus dem Innenraum zu schiessen. Das Festival selbst läst aber welche machen. Auf den bei Facebook geposteten sieht das Olympiastadion knackig voll aus. Abzüglich der Marektingkomponente landet man dann bei der Wahrheit.
Ohne die Grösse der Reserveflächen zu kennen, waren Innenraum und Tribüne zur besten Zeit des Muse-Konzerts vielleicht zu 70 Prozent ausgelastet. Mehr als ich nach dem turbulenten Vorverkauf erwartet hätte. Interessant wäre in dem Zusammenhang natürlich zu wissen, wie viele der Kartenhalter tatsächlich den regulären Preis bezahlt haben.
Es folgen ein paar höchst subjektive Eindrücke zu den Bands, deren Sets ich maximal zu 1/3 mitverfolgen konnte. Lasse mich gerne von Vollzeitverfolgern korrigieren.
Für Orchid, als Opener der Hauptbühne angereist, muss es ein ebenso wunderliches Bild gewesen sein, wie für mich. Das Rund des Olympiastadions war nahezu leer. Hier und da sass mal jemand auf der Tribüne, den Innenraum bevölkerten wohlwollend geschätzt 200 Menschen. Kurzum: Die Band hätte jeden mit Handschlag begrüssen können und trotzdem noch ihr halbes Set durchgebracht.
Auch Triggerfinger scherzten über ihren frühen Auftrittstermin, liessen sich von dem überschaubaren Zuschauerzuspruch aber nicht aus dem Konzept bringen. Routiniert spielten sie für die Fans ihre gewohnt staubig, basslastige Show herunter.
Bonaparte traten um 16:15 Uhr auf der Hauptbühne an und langsam merkte man: Die Leute haben Feierabend. Der Innenraum füllte sich zusehends und die Ränge taten es ihm gleich.
Jundts Truppe scheint etwas vom Konzept der aufwendig inszenierten Stripperei abgekommen. Ohne es recherchiert zu haben, meine ich auch einige Besetzungswechsel in der Band ausgemacht zu haben. Soweit die Erinnerung mich trägt, bestand sie ausschliesslich aus Frauen – Jundt natürlich ausgenommen. Jedenfalls stand die Musik gestern im Vordergrund, der Klamauk stand hintan. Ob das auf Dauer ausreicht um Bonapartes Slots zu halten, wird sich weisen.
Erstmals als funktionierende Einheit zeigte sich das Publikum bei The Hives. Fronter Per Almqvist feierte mit der Menge seinen 37. Geburtstag und animierte die Crowd mit seinen Festivalspielchen zu bis dato ungekannten emotionalen Ausbrüchen.
Die Klassiker standen definitiv im Vordergrund des 60minütigen Sets. Mit “Double The Trouble”, einem Song, den die Schweden schon im letzten Sommer in die Playlist aufgenommen haben, gab es zumindest einen engen Ausblick auf die hive’sche Zukunft.
Nun setzte eine Art sommerlicher Schlendrian ein. Incubus, Muse und Limp Bizkit wurden uns von der Fotoagenda gestrichen, Babymetal, Saint Vitus und Eisbrecher mussten ohne mich auskommen.
Nicht immer ganz freiwillig. Das kleine Theatron war schon gegen 17 Uhr vollkommen ausgelastet. Die kleine Stage wurde für neue Besucher gesperrt. Das gleiches Schicksal sollte später auch die Second Stage ereilen.
Bühnensperrungen und Sitzpflicht
Muse hatten etwa ihr halbes Set gespielt, als auf den Anzeigetafeln des Olympiastadions der Hinweis aufleuchtete, die Olympiahalle sei wegen Überfüllung geschlossen. Das zu einer Zeit, in der der dortige Auftritt von Limp Bizkit noch etwa 30 Minuten entfernt lag. Muse erhielten dadurch noch einmal ein paar mehr Zuschauer, schlicht weil es für die versprengten Besucher die einzige Musikoption nach 22:30 Uhr war.
Dieses Kapazitätsproblem der kleinen Bühnen 2 und 3 dürfte – so es denn eine Zukunft für die DEAG-Reihe gibt – auch in den Folgejahren kaum in den Griff zu bekommen sein.
Die Kapazität der Olympiahalle ist statisch und nicht erweiterbar, ob sich das Theatron an anderer Stelle grösser inszenieren liesse entzieht sich meiner Kenntnis. Fakt ist allerdings: Das mit Treppenstufen einem Amphitheater nachempfundene Gebilde wird auch heute dank Namen wie Ignite, Mad Caddies, Anti-Flag und Sick Of It All schnell an seine Grenzen stossen.
Trivia am Rande: Im Theatron besteht die Pflicht zu sitzen!
Wer heute Abend Airbourne und Turbonegro in der Halle sehen will, muss – um sicher zu gehen – zwangsläufig auf grosse Teile der Mainstage-Acts Judas Priest und KISS verzichten.
Muse selbst müssen einen harten Tag gehabt haben. Sie landeten erst kurz vor knapp in München, mussten daher alle geplanten Interviewtermine absagen und starteten ihr Headlinerset auch mit einigen Minuten Verspätung.
Als Opener fungierte Psycho an das sich die alten Perlen Stockholm Syndrome und Supermassive Black Hole anschlossen. Dieses Muster neu gefolgt von einigen älteren Songs zog sich durch das gesamte Set, das auch mit einem neuen Drum & Bass Jam und der Livepremiere von [JFK] aufwarten konnte. Nach runtergebrochenen 90 Minuten und einem Regenguss, der seinen Anfang bei Dead Inside nahm, war Schluss.
Gutes für die Ohren, die Augen allerdings haben schon aufwendigere Muse-Kulisse erlebt – auch bei Festivals.
Im goldenen Käfig
Noch ein paar Worte zum Sound im Olympiastadion, speziell den auf den uns zugewiesenen Sitzplätzen. Die Hauptbühne steht vor der Gegengeraden, so dass man auf der Hauptribüne etwa 200-300 Meter weit vom Geschehen entfernt in seinem Hartschalensitz hockt. Da wirken die Agitatoren aus der Entfernung wie animierte Streichhölzchen. Der Blick schweift reflexartig weg von der Mitte auf die seitlichen Videoleinwände. Doch zumindest mich macht die Asynchronität zwischen Bild und Ton kirre. Facebook und mein näheres Sitzumfeld bestätigen mich in dieser Auffassung.
Und doch waren wir privilegiert: Denn währen der Innenraum während Muse mächtig von oben gewässert wurde, blieben wir unter der Zeltdachkonstruktion Frei Ottos trocken. Wir Schweine.
Aus musikalischer Sicht kann man trotzdem jedem ohne gesundheitliche Leiden nur raten: Präferiert Innenraumtickets des Rockavaria gegenüber den vermeintlich komfortablen Sitzplatzkarten. Unbedingt. Einmal täglich von Regen begossen zu werden gehört einfach zur Festivalatmosphäre dazu – wie das Camping. Öhm, da war doch was.