Ich war noch nie in Hamburg. So ist das Reeperbahn Festival noch mehr Entdecken als es ohnehin für alle Gäste ist: neben den vielen Newcomern präsentiert sich auch die vielfältige Konzertclub-Landschaft auf der und rund um die Reeperbahn.
So richtig übersichtlich ist es hier erst einmal nicht: Mehr als 70 Spielorte verbünden sich zum Reeperbahn Festival als Austragungskollektiv, darunter Spielstätten, von denen man auch als Nicht-Hamburger schon einmal gehört haben könnte, das Docks etwa, aber auch kleinere Locations und solche, die unter dem Jahr alles andere tun als Konzerte zu berherbergen: Kirchen, Theater, Museen. Nicht alle davon sind direkt an der Reeperbahn, aber letztlich dann doch fußläufig zu erreichen. Fußläufig zu erreichen durch ein Gewusel von Festival-Besucher*innen bis Junggesellenabschied und Straßenmusiker*innen, die irgendwie alle nur Oasis im Repertoire zu haben scheinen.
Abend eins, es ist Mittwoch der 23. September, gilt es sich also erst einmal zurechtzufinden. Musikalisch startet das Festival schließlich mit Hælos, die Portishead und Massive Attack als Inspirationsgeber nennen, irgendwie auch danach klingen, und mich mit dem sehr großartigen, sehr sphärischen “Earth not Above” gekriegt haben. Auch live. Sie spielen im Moondoo, das direkt auf der Reeperbahn liegt, und wie ein Nachtclub aus New York ausschauen möchte: viel rund, viele Säulen in Gold, viele beleuchtete Neonflächen. Das macht Lust auf mehr, und so geht es nach dem sehr tollen Konzert von HVOB, die ihre sehr melancholische, sehr vielschichte elektronische Musik live inklusive Drummer präsentieren, weiter in das Molotow, wo eine der vielen Parties zum Festival stattfindet. “Das alte Molotow war besser”, höre ich an diesem Abend nicht nur einmal ohne es auch nur annähernd einordnen zu können. Trotzdem: Großer Außenbereich, an dessen Hausfassaden Videos projiziert werden und innen schwerst hitlastige Indie-Musik. Erfüllt damit ungefähr den Anspruch an den Tagesabschluss.
Der Donnerstag
Tag zwei offenbart erstmals in aller Deutlichkeit, dass es ein Reeperbahn Festival jenseits dessen gibt, was das allgemeine Publikum mitbekommt. Das ist auch so konzipiert: Neben dem allgemeinen Konzertprogramm bringt eine Konferenz insgesamt 3.500 Vertreter*innen aus Musik-, Konzert- und Festivalbranche zusammen. Die reden dann zum Beispiel darüber, wie die Festivalsaison 2015 gelaufen ist. Aber erst einmal zurück zur Musik:
Da ist etwa Sóley, die im Uebel & Gefährlich spielt und musikalisch recht minimalistisch und mit einer im Kopf bleibenden Stimme ihre etwas surrealen Geschichten erzählt. Und dann mit Ansagen überrascht, die so direkt, zugewandt und witzig sind, wie ich es niemals erwartet hätte: Sie habe ja kürzlich geheiratet. Und singt immer vom Männer umbringen. Und er frage sich deshalb schon die ganze Zeit, wann die Nacht gekommen sei. Sehr tolles Konzert. In einer sehr tollen Location.
Das Uebel & Gefährlich ist in einem Betonklotz mit fünf Stockwerken. Im Vierten. Zu erreichen per Aufzug mit einem Liftboy, der der die Knöpfe bedient, nebenbei liest. Und aus den Boxen, die mit Stickern beklebt sind, laufen Stereo MC’s.
Weniger als 500 Meter entfernt liegt der Grüne Jäger, der erst mal nach der daneben liegenden Kleingärtnerkolonie suchen lässt. Hier spielen Black Lizard aus Finnland, dem Schwerpunktsland des diesjährigen Reeperbahn Festivals. Lassen mich, in Auftreten wie Musik, erst einmal an Wolfmother denken. Ein wenig psychodelisch, aber stets eingängig. Das alles in diesen verwinkelten Räumen, die Bühne nicht mehr als ein zwanzig Zentimeter Podest und insgesamt schrullig, aber sympathisch.
Wanda schließlich, einer Band, an der man als Festivalist dieses Jahr schwerlich vorbeigekommen ist (waren zum Beispiel auf dem Melt!), bilden den Tagesabschluss. So wundert es nicht, dass sie im Docks, einer der größeren Locations, untergebracht wurden. Und genauso wundert es nicht, dass sich vor Einlass eine lange Schlange gebildet hat. Nicht alle, die Wanda sehen wollten, konnten an diesem Abend Wanda sehen.
Diejenigen aber, die sie sehen, sehen das altbekannte: die gutgelaunte, tobende Band, inklusive Stage Diving des Sängers Marco Michael Wanda. Wie sie das, nach über 100 Konzerten, einer anstehenden Herbsttour und jüngst angekündigten weiteren Terminen im Frühjahr machen, bleibt ein wenig rätselhaft. Das Publikum des heutigen Abend ist jedenfalls sicher nicht das euphorischste der Tour. Daraus muss man aber gar keinen abflauenden Hype prognostieren. Denn das zweite Album kommt, und Amore funktioniert weiterhin.
Freitag
Das Reeperbahn Festival will mehr bieten als Musik. Aushängeschild dafür ist eine Ausstellung, die sich in der Reeperbahn 116 auf mehreren Stockwerken erstreckt. Auf Ebene eins stehen beispielsweise Lautsprecher, die das wiedergeben, was via Telefon verbundene Gäste von anderen Teilen der Ausstellung erzählen. Sehr cool, das ganze.
Musikalisch bleiben neben Half Moon Run, die in der Großen Freiheit 36 neben dem Hit “Full Circle” zum Abschluss viele neue Lieder präsentieren, vor allem Balthazar hängen. Eigentlich ist es vielmehr das Gesamtauftreten: Wie sie das Publikum zum mit-wu-hu-hu-en bringen. Und der Sänger tänzelt in Röhrenjeans und Lederstiefeln so galant, und vor allem cool, auf der Bühne, wie ich es schon länger mehr bei einer einer dieser Indie-Bands gesehen habe. Am Ende stehen die Bandmitglieder, vom Schlagzeuger abgesehen, zu viert auf einer Höhe am Bühnenrand und bringen “Blood like Wine” a capella zu Ende: “Raise your glass to the nighttime and the ways. To choose a mood and have it replaced.”
Samstag
Der letzte Festivaltag – und die Veranstalter*innen ziehen Bilanz: Das Reeperbahn Festival ist nicht mehr wegzudenken als Branchentreffen in Europa: 3.700 Menschen vom Fach sind angereist, dazu 400 Medienleute. Dazu kommen 30.000 Besucher*innen, die an den vier Tagen ein Festivalprogramm mitmachen, das auf über 70 Locations verteilt ist. Genau das ist es, was das Reeperbahn Festival zu einem guten Teil ausmacht. So hat schon am Vortag Lutz Leichsenring, Pressesprecher der Clubcommission Berlin, in einer Session über Konzertclubs angesichts von Gentrifzierung, Clubsterben, und so weiter, völlig zurecht festgehalten, was das Reeperbahn Festival eben auch ist: eine starke Lobby für die Hamburger Clubkultur. Denn die Vielfalt besticht, macht das Festival zu etwas besonderem.
Das trifft nochmals besonders zu, wenn Locations jenseits des “Normalen” dazu kommen, der Fanshop St. Paulis etwa, wo Isolation Berlin auftreten. Die Ansagen sind weiterhin Markenzeichen: nuschelnd, teilweise in unverständlichstem Englisch, das Publikum zu kopfschüttelndem Schmunzeln bringend. Nicht mehr verständlich ist dann auch der Gesang bei der als letztes Lied angekündigten Nummer. Der Mikrofonständer leidet. “Spielen wir noch eins?” Sie spielen. Oh well, Mikrofon gerichtet, das Lied “Isolation Berlin” rausgehauen.
Trümmer haben Heimspiel im Gruenspan. Es ist das letzte Konzert für eine Weile, sagen sie. Entsprechend ausgelassen zeigt sich die Band auch: Sänger Paul Pötsch haut die Gitarre zu Boden, fortan muss eine Ersatzgitarre herhalten, die erkenntlich Probleme bereitet. Die Pannen seien Marketing Gag, verlautbart er schließlich: “Wie kann man sich heute noch besonders machen als Band? Das ist unser Angebot dazu.” Schön auch das neue Material, das die Band präsentiert. “ICC” etwa: “Wo soll es denn hingehen, sehe ich so aus als ob ich das weiß?”
Das könnte ich wunderbarst als Überleitung zu meinem persönlichen Herumgeirre auf dem Weg zum Docks benutzen, spare weiterführende Anekdoten diesbezüglich aber lieber aus. Wakey Wakey hatte ich hier mit Band erwartet. Und dann sitzt er da alleine am Piano, spielt bei Ankommen “Almost Everything” zu Ende und insgesamt ein Konzert, das eine Weile im Kopf bleiben wird. So sympathisch die Ansagen. So schön die reduzierten Lieder. Da ist es fast schade, dass er kurz vor Konzertende für den Titeltrack des kommenden Albums “Overreactive” vom Band wieder die volle Band auf die Bühne hölt und opulente Streicherklänge erklingen. Um so schöner der ruhige Schluss, der mich den folgenden eher stressigen Kurzausflug zu Vök aus den Gedanken und dem Nachbericht streichen wollen lässt, um festzuhalten: War schön mit dir Reeperbahn Festival. Du bist ganz ok, Hamburg. Ich komme gerne wieder.